Herbst

herbst

Jahrelang hatte ich meine Flucht vorbereitet. Hatte mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich diese Stadt nach langen Studienjahren endlich verlassen könnte. Noch zwei Jahre, noch eins, dann … Hatte genug von den Partygesprächen in meiner Heimatstadt, von der zweithäufigsten Frage im Small-Talk: „Wo kommst du denn her?“ und vom darauffolgenden „Nicht weit gekommen, hm?“ (Dieses Prozedere hatte ich bald so viel über, dass ich mich daraufhin in einer Kolumne auf der letzten Seite meiner Uni-Zeitung verteidigte.)

Entgegen allen Erwartungen fühlte ich mich am Abend meiner Bachelorentlassung nicht gelöst. Es war eine Prozedur gewesen, wie ich sie seit dem ersten Semester hatte beobachten können, nur, dass ich diesmal selbst ein aktiver Teil davon war: Eine Ausstellungseröffnung. Eine Eröffnungsrede. Ein Abschiedsgeschenk. Ein paar ermunternde Worte. Ein Foto. Applaus. Ich hatte mir im Vorfeld nicht einmal Gedanken darüber gedacht, wie ich auf ebendiesem Foto aussehen würde, und so sah ich aus, wie ich die ganze Woche lang ausgesehen hatte: Mit Sandalen an den Füßen und Ringen unter den Augen. Später merkte ich, wie sich das Wasser in meinen Augen sammelte.

Noch vor ein paar Tagen hatte ich mich geärgert, dass der Sommer sich heimlich verabschiedet, das Freibad die Saison vorzeitig beendet hatte und die Blätter gelb wurden. Es gab Monate, da fühlte mich so übersättigt von dieser Umgebung, die mich schon so lange umgab. Jetzt war Braunschweig auf einmal der schönste Ort auf Erden und nie hatte sich Fahrradfahren im Herbst so gut angefühlt. Es gab Zeiten, da konnte ich die Veränderung nicht abwarten. Jetzt hätte ich alles gegeben für ein bisschen mehr Zeit in dieser, meiner Stadt; Zeit für mich und Zeit mit den Leuten, die mir über Jahre wichtig geworden waren; ärgerte mich, weil ich die Flucht bereits genauestens geplant hatte, vor Angst, vor dem Stillstand und der Ruhe, die mich normalerweise nach meinem Bachelor erwartet hätte und die Eva so gut hier beschreibt.
Stattdessen ein Abschied, der den Begriff fluchtartig verdient hatte (… war es nicht etwa das gewesen, was ich so lange gewollt hatte?). Und so saß ich plötzlich verdattert in einem leeren, ausgeräumten Zimmer und zwei Tage später dann in einem leeren ICE-Abteil. Über Trier nach Dijon.

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