All of a sudden I miss everyone

Mein Kollege sagt: Ich bin kein Mensch, der Menschen oft vermisst. Es ist schön, mit ihnen zusammen zu sein, aber ich vermisse sie nicht, wenn sie nicht da sind.

Als er sagt, wird mir sofort klar, dass ich das komplette Gegenteil davon bin. Als Teenager war ich Fan einer Postrockband mit dem bildlichen Namen Explosions in the Sky. Ihre Alben trugen ebenso bildliche Albentitel, einer davon lautete: All of a sudden I miss everyone.
Ich denke diesen Satz sehr oft. Er zieht seit Jahren durch meinen Kopf, nicht nur in einer Zeiten wie diesen, wo mein Mitbewohner und ich wehmütig die Familie von nebenan beobachten, die sich im Hinterhof eine Tischtennisplatte selbst gebaut hat.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich in meinem Leben so viel umgezogen bin, dass ich eigentlich immer jemanden vermisse, der gerade nicht da ist.

Ich vermisse dann die Lebenden und die Toten, so wie ich an den Sonntagen meiner katholischen Kindheit aufsagen musste. Vermisse meine beiden – nicht weniger katholischen – Großmütter. Ich vermisse den leuchtenden Spalt, der aus meiner leicht geöffneten Kinderzimmertür fällt, die meine Mutter nach dem Einschlafen für mich auflässt, ich vermisse es, Wikingerschach mit meinem alten Schulfreund im Garten seiner Eltern zu spielen und dann vermisse ich sofort meinen besten Studienfreund, der ein hervorragender Brettspieler ist. Ich vermisse meinen allerersten Freund und den, von dem ich mich gerade erst getrennt habe, ich vermisse meine Braunschweiger und meine Bremer Wohngemeinschaften. Ich vermisse meine alte Mitbewohnerin, wenn sie die Wände ihres jetzigen Zimmers auf Instagram postet und meine andere Mitbewohnerin, die, seit ich sie kenne, immer an irgendeiner Hausarbeit schreibt, während hinter ihrem Haus die Autobahn vorbeirauscht, fast wie das Meer.
Ich vermisse die Freundin, mit der ich gestern noch telefoniert habe, aber auch die, von der ich seit drei Jahren nichts mehr gehört habe (außer, dass sie in diesen seltsamen Zeiten auf Instagram Tarotkarten legt). I miss my family, my dog and my home, wie es in einem weiteren Song meiner Teenagerjahre heißt, und dann fange ich an, die Freundin zu vermissen, die mir genau dieses Album in der 13. Klasse zum ersten Mal auslieh. Ich vermisse sogar das Gefühl, auf warmen französischen Bürgersteigen zu sitzen, während ein Freund mit dunklen Locken neben mir eine Kippe dreht.

Ein anderer Freund, den ich dann ebenfalls sofort zu vermissen beginne, erzählte mir mal, dass Marcel Reich-Ranicki einmal feststellte, dass alle großen Romane entweder a) von der Liebe oder b) dem Vergangenen handeln. Ich bin auf jeden Fall Team Vergangenheit, lebe immer ein wenig zu viel darin, mit diesen großen Vermissungsanfällen.

Das Gute ist, dass ich in diesen Isolationszeiten eigentlich nie allein bin, weil ich diese Erinnerungen ständig mit mir herumtrage. Weil ich immer genug Menschen vermisse, sodass ich auch normalerweile Tage damit fülle, sie alle nacheinander anzurufen. Und als mich kürzlich jemand nach einem Album für die Selbstverordnete-Quarantäne-Playlist fragte, dann weiß ich schon die Antwort: All of a sudden I miss everyone.

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